Plattenkritik: Claire M Singer – Gleann Ciùin (Touch)Stille Täler

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Die schottische Komponistin setzt ihre Orgel-Trilogie fort.

Noch vor wenigen Jahren hätte ich nicht gedacht, dass die Orgel als Instrument in meinem musikalischen Alltag eine relevante Rolle spielen würde. Doch ich lernte gamut inc. kennen und eine vollkommen neue Welt der automatisierten und MIDI-fizierten Kirchenorgeln. Was für ein Kosmos. Erst kürzlich war ich zu Gast bei der Biennale Musica in Venedig, wo unter anderem Maxime Denuc seine Installation „Elevations“ vor- und ausstellte – eine endlose Schleife fein austarierter Motive für eine MIDI-Orgel. Er selbst beschreibt das Werk als Hommage an den Dub-Techno im Allgemeinen und Vainqueur im Besonderen. Mindblowing.

Claire M Singer braucht für ihre Kompositionen keinen Laptop und keine MIDI-Schnittstelle. 2016 schrieb ich erstmals über ihre Musik, Ende 2023 war es dann mit „Saor“ um mich geschehen. Dieses Album markierte dem Beginn einer Album-Trilogie, die die Schottin nun mit „Gleann Ciùin“ fortsetzt. Wie das Album klingen würde, konnte man bereits im September in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin erahnen, als sie Teile der Platte beim Aggregate-Festival aufführte.

Die neue Platte macht genau dort weiter, vor der Vorgänger aufgehört hat: Singer konzentriert sich auf wenige Motive, die über mehrere Kompositions-Teile – Stücke, Tracks – immer wieder aus leicht anderer Perspektive beleuchtet werden. Die Inspiration liefern lange Spaziergänge durch die schottischen Highlands, die die Komponistin dann an verschiedenen Orgeln in Musik gießt. Zum großen Teil in Schottland, für das Titelstück aber auch in London – an der Flentrop-Orgel (1967) in der Queen Elisabeth Hall am Southbank Centre. Neben Singer spielen auch Yann Ghiro, Patsy Reid und Andy Saunders: Streicher, Blech- und Holzblasinstrumente.

Claire M Singer Portrait

Claire M Singer | Foto: Agnes Haus

Nun ist es Jahrhunderte her, dass ich zuletzt in Schottland war. Die Highlands kenne ich nur von der falschen Seite des Zugfensters. Doch allein diese Eindrücke haben sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es wirklich ist, in Aberdeenshire auf Wanderung zu gehen, aus den Tälern – den glens, bzw. gleanns – über die sanften Hügel hinauf auf die Spitzen der Erhebungen. Vielleicht werde ich es irgendwann selbst erleben, bis dahin bleiben mir die Kompositionen von Claire M Singer als musikalisches Tagebuch. Die Weite, die eine Orgel in Kirchenschiffen und anderen Orten mit meterlangen Hallfahnen erzeugen kann, scheint mir die agency der schottischen Landschaft perfekt einzufangen. Vibrationen, Resonanzen: Alles klingt groß und mächtig und ist doch nah, klar und präsent. Es sind die vielleicht purpursten Drones, die die Musikgeschichte bislang gehört hat, die Singer hier aufgenommen hat. Kontrastiert und kontextualisiert mit den weiteren Instrumenten, die mit Weite und Nähe ganz anders spielen und das Album so noch einzigartiger machen. Das passt alles ins Bild, denn für Singer ist die Orgel vor allem Klangquelle und nicht das Instrument mit all seiner Historizität. So schließt sich auch der Kreis von Singer zur Szene derjenigen, die für die Orgel auf dem MacBook komponieren, weil nur das Digitale ihre Werke auf den Pfeifen überhaupt möglich macht.

„Gleann Ciùin“ ist rein und unverfälscht. Und führt damit den Gegenbeweis dessen, was in der zeitgenössischen Musik oft eingefordert wird: die Reibung, das Andersartige. Bei Singer entsteht die Reibung nicht in den Ohren, sondern erst im Herzen. Genau richtig.

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