Pageturner – August 2025: VerbindungenLiteratur von Keigo Higashino, Deborah Levy und Emanuele Coccia

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Ein Kummerkasten mit angeschlossener Zeitmaschine wird zum Drehkreuz der Lebenshilfe zwischen Generationen. Eine Pianistin hört auf zu spielen und begibt sich auf die Suche. Und was kann bzw. muss das Vertraute leisten? Fest steht: Ohne Verbindungen wären wir nichts.

Keigo Higashino – Kleine Wunder um Mitternacht (Limes Verlag, 2021)

Ein Kummerkasten kann Leben retten und Menschen glücklich machen. Der japanische Bestsellerautor Keigo Higashino, ansonsten vorwiegend im hartgekochten Thriller-Gewerbe unterwegs, hat die hübsche Idee in einen sehr hübschen Young-Adult-Fantasy-Roman gepackt. Es gibt zwar auch Todesfälle, aber die spielen definitiv nicht die Hauptrolle.

Die Ausgangssituation ist schlicht. Ein Gemischtwarenhändler, der auch ein wenig ein Viertelaktivist ist, stellt vor seinem Laden einen Kummerkasten auf, wo er die Anliegen der Nachbarn sammelt, auch Witze und Fangfragen, und sie per Brief beantwortet. Was sich dann zu so etwas wie Lebenshilfe im lokalen Rahmen entwickelt – bis er irgendwann nicht mehr kann und der Laden schließt. Der Kummerkasten bleibt aber weiter aktiv. Der verlassene Laden ist nämlich eine seltsame kleine Zeitmaschine, die Monate zu Minuten kondensiert und die Antwortbriefe in die Vergangenheit schickt. So wird eine Gruppe jugendlicher Möchtegern-Kleinkrimineller, die in den Store einbrechen, zu zufälligen Beratern für Probleme von Menschen ihrer Elterngeneration, als diese jung waren. Dass diese indirekte Konversation per Brief durch die Dekaden hauptsächlich auf Missverständnissen und Fehlkommunikation beruht, aber dennoch (oder gerade deswegen) den Absendern der Sorgenbriefe tatsächlich hilft, macht einen Gutteil des Charmes der Erzählung aus. Nach und nach wird auch klar, dass so einiges zusammenhängt, Briefe und Adressaten und Laden keineswegs so zufällig zusammenkamen wie gedacht. Aber selbst diese angedeutete Thriller-Handlung bleibt letztlich nur ein Vehikel für die wundervoll erzählten Geschichten interessanter Individuen, die sich um den Kummerkasten herum entfalten. Die Sprache, die Higashino dafür findet, ist einfach, der Tonfall lässig und leicht (zumindest in der Übersetzung). Sodass man schnell übersehen kann, wie subtil konstruiert die Geschichte als Ganzes ist, wie fein verwoben die einzelnen Teile sind.

Pageturner August 2025 Deborah Levy August Blue Cover

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Deborah Levy – August Blue (Hamish Hamilton, 2023)

Schon etwas schade, dass Deborah Levy ihre Genre definierende wie transzendierende autofiktionale Trilogie abgeschlossen hat. Also zurück zum Roman, zur Novelle besser gesagt. Das ist dann aber wieder gar nicht so schade, denn „August Blue“ zeigt alle ephemeren Qualitäten im schreiberischen Können, das Levy in ihren Autofiktionen demonstriert hat. Wie kaum jemand sonst schafft sie es, Zwischentöne, feine Nuancen, Unausgesprochenes in ihre Zeilen zu bringen – und eben nicht dazwischen.

Wie fast alle ihre jüngeren Arbeiten bewegt sich ihr neuer Text in einem mediterranen Setting, zwischen Athen, Sardinien, London und Paris. Und es sind eben Griechenland und Sardinien, die den entscheidenden Einschnitt, den Wandel bringen im Leben einer erfolgreichen Klassik-Pianistin, die vom Zenit ihrer Karriere eigentlich noch weit entfernt ist. Wenn sie beschließt zu verschwinden, sich als private Musiklehrerin durchzuschlagen in einem ganz anderen Leben. Doch dieses neue Leben wird begleitet und kontrastiert von einer Doppelgängerin, der sie immer wieder begegnet, auf allen Etappen, in allen möglichen Situationen. So hat die von einem berühmten Maestro adoptierte Waise kein Interesse daran, ihre biologische Familie zu finden, sondern stattdessen hat sie die Musik, und irgendwann dann eben nicht nur mehr die Musik, sondern vielleicht sogar etwas eigenes. Vielleicht ist ja etwas dran an den alten Klischees vom Licht des Südens, vom Wasser und der Wärme, der transformativen Kraft des Mediterranen. Ist das Licht weniger milde, zeigen sich allerdings Risse in diesem schönen Bild. In London, Paris oder Wien kommt eine fragmentierte Persönlichkeit zum Vorschein, eine unsichere und unzuverlässige Erzählerin, die lieber von Kunst erzählt, als Freundschaft und Nähe zuzulassen. Die scheinbar sorglos durch die Pandemie schlafwandelt und doch ein Leben zu führen scheint, das gänzlich aus anderen Leben, aus Artefakten von Musik und Kunst besteht. Und Levy schreibt so großartig, dass überhaupt nicht auffällt, wie viele touristische Kunst/Leben/Reise-Trivialitäten hier eingearbeitet sind. Als wäre Hemingway ein Rachmaninow-Interpret. Eine grandiose Zumutung also, wie sie Literatur im besten Sinne sein kann.

Pageturner August 2025 Emanuele Coccia Das Zuhause Cover

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Emanuele Coccia – Das Zuhause (Hanser, 2022)

Philosophien der Stadt gibt es einige, diejenigen des „Zuhause“ sind dagegen rar. Emanuele Coccia, der italienische, aber im wesentlich kosmopolitische, global beheimatete Philosoph der Metamorphosen, versucht in seinem eher kurz gehaltenen Band so etwas zu leisten – und scheitert auf durchaus angenehme und sympathische Weise an diesem Anspruch.

Denn anstatt eine kohärente Theorie des Heimischen durchzuexezieren, lässt Coccia seine Gedanken schweifen, flittert von einem häuslichen Thema zum nächsten und endet eigentlich immer ganz woanders. Etwa bei der Liebe oder beim Animismus, bei Zwillingen oder – besonders erfreulich – bei einer offenen wie dynamischen Theorie der Identität, denn diese ist in einem demokratischen Raum immer Verhandlungssache, ein gemeinsam immer wieder neu erschaffenes konsensuelles Ding jenseits von Herkunft und Gruppenzugehörigkeit. Coccias Zuhause ist so ganz nebenbei ein radikal anti-essentialistischer Gegenentwurf zum heute gängigen Verständnis rechter wie linker Identitätspolitik. Und es offenbart ein erfreulich dynamisches Verständnis von Philosophie als ergebnisoffenes, immer vorläufig bleibendes Denken. Eines, das neugierig sein darf, das Abschweifen als Prinzip verinnerlicht hat und Erkenntnis immer suchend behandelt und nie beim einmal Gefundenen verharren möchte. Also kein grandioser Weltentwurf, sondern gesammelte Nebensächlichkeiten, die zum Eigentlichen werden.

Plattenkritik: John Also Bennett – Στoν Eλaιώνa / Ston Elaióna (Shelter Press)Weicher Blick