Plattenkritik: Knocked Loose – You Won’t Go Before You’re Supposed To (Pure Noise)Stockholm-Syndrom

Knocked Loose – You Won’t Go Before You’re Supposed To Cover

Kann ein Album alleine Metal retten? Es kann. Das dritte Album von Knocked Loose ist ein Manifest, ein Spektakel und der Beweis, dass man 2024 noch Pop-Geschichte schreiben kann, die weder mit Taylor Swift noch mit Beyoncé zu tun hat.

Vor einigen Jahren sprach ich mal mit einem Menschen vom Deutschlandfunk. Es ging unter anderem darum, wieso im Radio eigentlich immer so seichte Musik gespielt wird. Die Erklärung war einfach wie unspektakulär. Im Radio geht es immer darum, die Leute nicht zu verlieren. Wenn mal zu hektischer Jazz oder harter Metal in der Tagesschiene läuft, Oma Amelie sich halb zu Tode erschreckt und den Sender am alten analogen Radio wechselt. Diese Leute sind so gut wie für immer verloren. Wer einmal am Rädchen dreht, komme nicht wieder, so der Radiomensch.

Vielleicht ist es auch deshalb so, dass hier im Laufe der Jahre so selten Metal stattgefunden hat. Da bin ich einfach der Einzige in der Redaktion, der so eine Musik in jungen Jahren gehört und einen Bezug dazu hat, und wie bei alten Ehepaaren passt man sich in Geschmacksfragen ja unbewusst an. Alte Paare bestellen irgendwann auch immer das Gleiche zum Essen, egal, wo sie sind. Wobei, dafür muss man gar nicht mal alt werden, und eigentlich hat es auch was Schönes. So etwas wie ein gemeinsames Umfeld geschaffen zu haben, indem man sich wohl fühlt und weiß, dass man damit niemand ärgert.

Zurück zum Metal. Knocked Loose ist eine Hardcore-Band aus Oldham County, Kentucky, und es gibt sie seit etwa zehn Jahren. „You Won’t Go Before You’re Supposed To“ ist ihr drittes Album, es ist ein gewaltiger Schritt in der Entwicklung dieser Band. Und, es ist in jeder Hinsicht beeindruckend. Das Album ist komprimiert, brachial, fokussiert, spielfreudig, komplex und wahnsinnig fett produziert. „You Won’t Go Before You’re Supposed To“ ist wörtlich zu verstehen. Setz dich, halt die Fresse und du stehst erst wieder auf, wenn du aufgegessen hast. Die zehn Songs sind eine Geiselnahme, aber eine, aus der man gar nicht mehr raus will. Weil auch nach mehrfachem Hören, die Masse an kreativen Ideen, inspirierten Riffs und überraschenden Songstrukturen überwältigen. Meine Fresse, von Muhammad Ali würde ich mich auch verprügeln lassen, einfach um erlebt zu haben, dass der Beste aller Zeiten einem die Nase die bricht.

Metal war, zumindest aus meiner Sicht, die letzten zehn Jahre ziemlich festgefahren. Knocked Loose erfinden sich und das Spiel neu. Nicht, weil sie die große Revolution starten, sondern – ein bisschen wie beim Skaten – bewährte Tricks der letzten Jahrzehnte völlig neu, schnell und überraschend kombinieren, aber dabei vor allem technisch große Schritte machen – mit viel individuellem Stil. Und niemand soll sagen, dass Skaten die letzten zehn Jahre nicht besser geworden sei. Knocked Loose haben so gesehen gerade ihren Prime gefunden.

Ich liebe die Neunziger-Referenzen in „The Calm That Keeps You Awake“. Das Sepultura-Intro und der Machine-Head-Brecher am Ende, der von „Davidian“ beeinflusst wurde. Brillant. Die Tracks sind chirurgisch editiert, keine Explosion verpufft, alles präzise und minutiös einstudiert. Soundtechnisches Rückgrat der Band ist der Hardcore, ein Anker. Immer wieder halten die Knüppel-Punk-Doubletime-Stellen, die Passagen zusammen. Aber es zeugt auch von Größe, so ein kunstvolles Monster, so puristisch und kompromisslos zu performen. Nämlich das, was ich 90 Prozent aller Metal-Bands zum Vorwurf mache, irgendwann mit melodischen und klar intonierten Refrains Pop-Appeal suggerieren zu wollen. Es gibt nichts Schlimmeres. Knocked Loose denken nicht daran. Danke dafür. Das macht diese zermürbende Abfahrt, um so moderner und zeitloser zugleich. In nur 27 Minuten wird alles kondensiert, was diese Musik großartig macht. Technik, Virtuosität, Athletik und Genialität. So kann man auch Reggaeton oder Trap-808 in diesen Panzer bringen. Alles Banger. Unweigerlich muss ich an Fußball denken. Frankreich gegen Brasilien WM 2006 und ein Zidane, der die Selecao im Alleingang auseinandernimmt. Spanien 2010. Wenn der Mund offen bleibt und man aus dem Staunen nicht rauskommt. Wenn man feststellt: Ja, das hier ist Sport, es ist jahrelanges hartes Training und Disziplin, aber wenn alles passt, keine unnötigen Übersteiger, dann kann hier größte Kunst geschehen, die Menschen auf der ganzen Welt berührt. So fühle ich mich bei „ You Won’t Go Before You’re Supposed To“. Kein Album habe ich dieses Jahr schon so oft gehört. Ich bin mittendrin im Stockholm-Syndrom. Ich bleibe vorerst hier.

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