Hängengeblieben 2020Unser großer Jahresrückblick

HG Rückblick 2020 start

Das Leben ist wie ein Glas Lakritzkonfekt im Dunkeln. Man weiß nie, was als nächstes kommt und wenn, dann schmeckt es nach Lakritz. Auch zu diesem Jahr gibt es mal wieder den großen Redaktionsrückblick von Das Filter. Wie immer subjektiv, alphabetisch und mit all den Themen aus 2020, die uns in 20 Jahren noch staunen lassen werden.

2020 – Ein Symbolfilm von Chris Marker

Christian Blumberg

86 Cent

Ende 2020 gibt es Ärger um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Mal wieder. Um die Beiträge bzw. die Erhöhung. Mal wieder. 86 Eurocent stehen im Raum – kaum auszuhalten (entschuldigt den Sarkasmus). In Zeiten, in denen Netflix und Disney+ die Preise erhöhen, muss man sein Geld aber auch doppelt zusammenhalten. Und was ist mit Corona? Ich muss ja schon meinen Take-Away um die Ecke supporten, da kann ich doch nicht auch noch den Volksmusik-Etat der ARD bezahlen! Doch, kannst du. Denn es gibt in einer Demokratie kaum etwas Wichtigeres, als unabhängige Radio- und TV-Sender. Wir können von Florian Silbereisen, Carmen Nebel, Markus Lanz, der Bundesliga und dem Krimi-Fanatismus des ZDF halten, was wir wollen – und Diskussionen darüber sind wichtiger denn je. Was wir uns nicht leisten können, ist, dass der DLF irgendwann die „Informationen am Morgen“ nicht mehr sendet, Kleber und Slomka nicht mehr im Studio stehen, Funk nicht mehr auf YouTube publisht und Radio Fritz auf die letzte Nischensendung verzichtet. Der Rundfunkbeitrag ist ein Sinnbild der gesellschaftlichen Solidarität, der Sicherstellung bestimmter Grundbedingungen, der Daseinsvorsorge. Dass die nicht mehr allerorts gefragt ist, ist schlimm genug. Ob alt oder jung, links oder rechts: Die Argumente gegen die Öffentlich-Rechtlichen finden sich überall. Schlimm ist das. Man kann sich mit alten Buddies über die skurrilsten B-Seiten aus Detroit unterhalten – beim Beitrag winken sie ab. Weil sie eben doch nur auch Facebook hängen und die Gratis-Angebote der Welt lesen. Unfriend, sofort. Auch Subkultur braucht eine Erdung. Weil: Die bedeutet am Ende des Tages rein gar nichts. Wer gegen den Rundfunkbeitrag (und dessen Erhöhung) ist, macht sich gemein mit einer der Ur-Forderungen der CDU. Allein das ist schon despektierlich. Remember Adenauer und sein ZDF? Und man macht sich auch gemein mit den Rechtsradikalen in unserem Land, die mal wieder ihre Chance wittern. Wollt ihr das? Wir brauchen keine eigenen Newsrooms der Parteien, wir brauchen auch keine Algorithmen-basierten Feeds und auch keine Shitstorms der Springerpresse gegen die textliche Aufarbeitung bewegtbildlicher Inhalte auf tagesschau.de. Wir brauchen Vernunft. Ohne Silbereisen, Nebel und Lanz, aber mit Slomka und Kleber. Wer sich davon überzeugen will: Die „Informationen am Morgen„ im DLF sind in der Regel zwischen 6.40h (nach der Morgenandacht, das ist eher Popcorn-Material) und 8 Uhr am besten. Da werden die gegrillt, die dieses Land regieren. Man kann von ihnen halten, was man will – zuhören sollte man ihnen auf jeden Fall. Und genau das geht nicht beim Frühstücksradio XY und n.tv.

Thaddeus Herrmann

Amazon

Hat uns schon allen ein bisschen den Arsch gerettet 2020, oder? Im ersten Lockdown und jetzt wieder im zweiten – wie lange der auch immer dauern wird. Davon abgesehen, dass immer mehr Menschen praktisch nur noch bei großen Anbietern bestellen, ist die Logistik von Amazon nach wie vor allen Mitbewerbern überlegen. Das geht natürlich auf Kosten der Mitarbeiter*innen in den Logistikzentren und den Fahrer*innen der letzten Meilen. Diese. Armen. Schweine. Ich beobachte das oft auf meiner kleinen und engen Straße. Dann parken zwei weiße Vans mit polnischen Kennzeichen schön mittig und tauschen diese großen Transport-Rucksäcke aus. Das nennt man wohl kollegiale Unterstützung. Sub-Sub-Sub-Sub-Unternehmer*innen arbeiten im Akkord, ausgestattet mit kaputten Android-Telefonen für Scans etc. Euch allen ein großes Danke. Das Gleiche gilt für den DHL-Mann, der immer wieder bei mir klingelt: „Nimmste an?“ Na klar. Ein paar Mal im Jahr bekomme ich eine E-Mail von Ralf Kleber, dem country manager von Amazon für Deutschland. Netter Typ, ich habe ihn ein paar Mal bei Events und Weihnachtsfeiern getroffen. Am 17. Dezember schrieb er mit der Headline „Die einzige Konstante bleibt die Veränderung“: „Wir meinen es ernst. So haben wir in diesem Jahr 1.800 Elektrofahrzeuge von Mercedes-Benz bestellt – die größte Bestellung dieser Art in der Geschichte des Fahrzeugherstellers. 800 dieser Fahrzeuge werden wir auf deutschen Straßen sehen. Unsere Programme für nachhaltige Verpackungen haben allein in Europa über 100.000 Tonnen an Verpackungsmüll eingespart, was 176 Millionen Paketen entspricht.“ Bis 2025 will das Unternehmen zu 100 % mit erneuerbaren Energien arbeiten. Ich drücke die Daumen. Auch dafür, dass die erwähnten E-Autos wirklich auf den deutschen Straßen verkehren und das Ganze mehr wird als ein Vorzeigeobjekt, von dem die Sub-Sub-Subs rein gar nichts haben. Denn die machen die eigentliche Arbeit. Noch schlimmer als Amazon scheint Zalando unterwegs zu sein. Auch die setzen jetzt auf eigene Fahrer*innen. Klingelte neulich erst – um 22 Uhr. Abgehetzt, fertig und ratlos. Meine Nachbarin hat’s gefreut, dass ich noch auf war.

Thaddeus Herrmann

Ambient aus Japan

Wenn es eine Musik gibt, die mir dieses Jahr Halt und Trost gegeben hat, dann ist es japanischer Ambient aus dem 20. Jahrhundert. New Age und Environmental Music hatte ich ja immer als Wellness-Spa-Muzak abgetan. Es brauchte offenbar für mich diese Krise, um die Kraft und Wirkung der Musik von Hiroshi Yoshimura, Satoshi Ashikawa und anderen zu erkennen und den therapeutischen Nutzen darin zu sehen. Japanischer Ambient aus der Zeit ist nämlich oft einer Funktion unterlegt. Möbelmusik im Satie’schen Sinne, aber auch Werbung, Interior Design, Kosmetik können eine integrale Rolle spielen. Aber auch entkoppelt von kommerziellen Funktionen, bzw. rekontextualisiert Jahrzehnte später gehört, bleibt es große Musik. Für diese Spätentdeckung haben wir vor allem auch dem Label Light in the Attic zu danken, das mühsam seit Jahren eine Perle nach der anderen wieder veröffentlicht und zugänglich macht.

Ji-Hun Kim

Balaclava

Maskiert schleicht sich Jungle dieses Jahr aus dem urbanen Dickicht des UK Hardcore Continuums weiter auf verschiedene musikalische und mediale Bühnen. Treffend, dass mit „Balaclava (Skeptical Remix)“ von Breakbeat-Legende Shy FX mit den MCs Spyda, D Double E und Frisco eines der am meisten beachteten Stücke eben jene Camouflage im Titel trägt. Der Mix aus aktuellem Bounce und klassischer West-Indies und London-Referenz macht den Wollmützen-Tune zum Lieblingsstück von House-Connaisseur Hans Nieswandt und zur Diskussionsgrundlage eines mehrteiligen Specials des Radio-Masterminds Klaus Walter. Hierzulande setzt sich das Aufholen der verpassten Berichterstattung über den im Vereinigten Königreich seit mehreren Jahren große Festival-Hauptbühnen füllenden Jungle-Hype (siehe Chase & Status) in den Musikmagazinen fort. International gehen entsprechende Releases auf Hipster-Labeln – wie Sneaker Social Club, Western Lore, Lobster Theremin etc. – in den Bestenlisten regelmäßig ein und aus. Eine Flut von Wiederveröffentlichungen, Remastern, Publikation von Dubplates aus den Jahren 1991 bis 1996 füllen die Newsletter der Plattenvertriebe und MP3-Stores, während bei Discogs die Preise für fast alles, was mit Jungle zu tun hat, explodieren. Junge Producer*innen üben sich im Cutten des Amen-Breaks und in Neuinterpretationen des Jungle-Drum-and-Bass-Kanons. Leitfiguren des Genres treten wieder in den Fokus der Öffentlichkeit. Für das Ausloten des ewigen Bass- und Beats-Meeresgrunds wurde Symbolfigur Krust mit neuem Album unlängst für den British Music Award nominiert. Englische Clubwear und Designer*innen imitieren den Style der Post-Acid House-Ära. Waren zuvor Bücher zum Thema eher rar, so erschienen 2020 relativ viele Betrachtungen aus dem Land der Futur-Rhythmus-Maschinen (Eshun). In Techno und House gehört es 2020 fast schon zum Standard, einen Breakbeat-Track als Jungle- oder UK-Garage-Referenz auf der EP zu haben und die Hybriden aus geraden und ungeraden Beats, wie bei Breaka, Special Request, Denham Audio, Pangaea, Om Unit, Anunaku, Skee Mask, Octo Octa, Basic Soul Unit, Lone und weiteren finden getarnt ihren Weg ins Kulturradio und Feuilleton. Nicht dass der erneute Siegeszug von bassbetonter Breakbeat-Musik überraschend gewesen wäre, denn sie war nie weg. Interessant, dass gerade jetzt Jungle für mehr als eine eingeschworene Fan-Basis wieder wicked ist. So ist die Rückkehr zu Hardcore-Stabs, Breakbeats, Hoover-Sounds und dem Zustand an der Achse von Rave-Euphoria und Paranoia ein Ausdruck für die Gleichzeitigkeit von Innovation und Retroschleife, vom Zitieren der Zitate, vom gleichberechtigten Nebeneinander der Ambivalenzen. Im Wunsch nach einem Rave-Utopia ist der Jungle-Rehype zugleich eine Reaktion zur Zeit, derer sich nicht ausschließlich nostalgisch, sondern in der Mitte zwischen Zugänglichkeit und Irritationsanspruch begegnet wird. Metamoderne in der Skimaske. When the crowd says bo selecta, re-rewind!

Steffen Korthals

Berlinale 2020

In einem normalen Jahr hätte es die Berlinale 2020 sicherlich schwer gehabt, einen Platz in den kulturellen Highlights des Jahres zu finden. Zu wenig Neuanfang, zu wenig Abkehr von den Kosslick-Zeiten, zu wenig wirklich gute Filme gab es im ersten Jahr unter der neuen Leitung von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek. Ob es nächstes Jahr besser wird? Vermutlich nicht. Gerade wurde entschieden, dass die Berlinale 2021 im März online und im Juni mit Publikum stattfinden soll. Zu wirklich entspannten Kinobesuchen wird dies aber mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht führen. Aus diesem Grund ist der Blick zurück mit einem nostalgischen Schleier belegt. Meinen letzten Film auf der großen Leinwand habe ich im März auf der Berlinale gesehen, außerdem liefen dort Hong Sangsoos The Woman Who Ran, den die Cahiers du Cinéma gerade in ihre Top-10 des Jahres aufgenommen haben, Kelly Reichardts toller Kuchen-Back-Western First Cow und Eliza Hittmans Indie-Sensation Never Rarely Sometimes Always. Schön war’s!

Tim Schenkl

Blackpink

Beteigeuze

beteigeuze

Scheint bright wie ein Diamond: Beteigeuze (oben links)

Der Star des Jahres ist Beteigeuze aus dem Sternbild Orion. Der rote Riese, der so groß ist, dass er vom Zentrum unseres Sonnensystems bis fast zum Jupiter reichen würde, ist von der Erde aus sehr gut zu sehen. Allerdings ist er vor einiger Zeit für unsere Augen dunkler geworden, wegen ausgestoßener Materialwolken. Zuerst ging man davon aus, es könne eine Supernova bevorstehen. Die Gerüchte halten sich weiter. Seitdem twittert Beteigeuze fleißig. Macht sich über die Gerüchte und das Unwissen lustig, disst andere Sterne und zeigt sich als ein rundum humorvoller, selbstbewusster Player am Firmament.

Jan-Peter Wulf

Corona

Mit diesem Begriff verband ich bis zu diesem Jahr etwas Wundervolles. Nicht wegen dem Bier und auch nicht wegen dem Neunziger-Danceact, aber schon wegen der Neunziger, ganz an deren Ende. Schon als Kind in den Eighties hatte ich Was-ist-Was-Bücher (Favorit: „Planeten und Raumfahrt“ lesend) dem 11. August 1999 entgegen gefiebert. Ich bin dann nach Karlsruhe zu einem Freund gefahren, denn nur im Süden war die „Sofi“ in voller Pracht sichtbar. Im Schlosspark hatten sich sehr viele Menschen mit Sofi-Brillen (restlos ausverkauft im ganzen Land) versammelt, der große Oskar Sala spielte auf dem Trautonium, eine plötzlich auftauchende Wolke wurde gnadenlos ausgebuht und verzog sich vom Himmel und dann kam der Mond. Schob sich vor die Sonne, es wurde grau und kühl, die Vögel drehten durch und dann wurde es dunkel und still. Totale Sonnenfinsternis. Doch nur ein paar Sekunden, dann erstrahlte um den Mond die Corona. Ein kosmischer Strahlenkranz. Mit das Schönste, das ich je gesehen habe.

Jan-Peter Wulf

HG 2020 Corona-Illu

Corona in Illustrationen

Ein neuartiges Virus, welches vornehmlich dieses Jahr prägte, will auch visualisiert werden. Mittlerweile kann jedes Kind diesen verunstalteten Massageball, diese Kugel mit Nupsis oder Pinnöppeln, malen. Zuerst brannten sich die wissenschaftlichen Illustrationen in unsere Köpfe ein, dann folgten die unheilvollen Illustrationen und irgendwann die Verballhornungen. Corona als Weltkugel, Sisyphos, Bombe, Alarm, Sonne, Heiligenschein, Schwimmreifen und Discokugel. Ich bin nicht ganz sicher, wie es anderen Editorialdesigner*innen in diesem Jahr erging, aber mein regulärer Verdienst als Freitag-Titelgestalterin brachte mich in diesem Jahr an die Grenzen des visuellen Erfindungsreichtums. Klar, so ein kreisrundes Teil kann ein/e Designer*in in Collagen und Illustrationen eigentlich überall raufpappen, aber Pandemiemüdigkeit trifft halt vor allem die Augen. Noch ist nicht gesagt, dass der Corona-Geschmacksverlust auch den Sehnerv betrifft, doch mit dem fortschreitenden Jahr bekommt man fast den Eindruck. Entschuldigung, aber ich kann den Böppelball halt einfach nicht mehr sehen.

Susann Massute

Corona-Unterstützung

Eine Dreiviertelmillion britische Pfund hat Resident Advisor (bislang) von der englischen Regierung als Soforthilfe in Sachen Corona erhalten. Glückwunsch. Damit ist der durch Ticket-Verkäufe querfinanzierte Techno-Journalismus in Form von 1–2 Longforms und mehr oder weniger sinnvollen bzw. –losen News gesichert. Was ist eigentlich los in „unserer“ – der Bassdrum-Welt? Bezahlen will niemand mehr für irgendwas. Ist ja auch kein Wunder, weil viele lokal unterstützen, gerade in diesem Jahr. Der Lieblings-Club bekommt Geld für Glühwein und absurde Tanz-Tees, den Rest holt man sich von Soundcloud, bräsigen Mixen mit Spendenaufrufen. Rational betrachtet heißt das eigentlich nur: Die „Szene“ ist am Ende. Hat nichts anzubieten außer Merchandise und limitierten 12"s – mit Musik, die praktisch niemand mehr hören will. Weil es kein Szenario mehr gibt, in denen diese Tunes funktionieren könnten. Das ist alles schlimm. Führt uns aber auch die lahmende Halbwertzeit unserer Kultur vor Augen. Wie weiter? Keine Ahnung. Jedenfalls nicht so wie bisher.

Thaddeus Herrmann

dalgona

Photo by Isabela Kronemberger on Unsplash

Dalgona

Der via Insta, TikTok und Co. gehypte Kaffee des Jahres heißt Dalgona, benannt nach in Korea beliebten, süßen Keksen, weil er so ähnlich schmeckt und aussieht. Im Prinzip ist es ein umgedrehter Cappuccino – oben ist schaumiger Kaffee, unten ist heiße oder kalte Milch. Lösliches Kaffee- oder Espressopulver, Zucker und Wasser im Verhältnis 1:1:1 in eine Schüssel geben, mit Handmixer oder Rührgerät ordentlich cremig schlagen, Milch in eine Tasse oder ein Glas geben, Kaffeeschaum draufgeben und mit Keksen, Kakaostaub oder so toppen. Koffeinschock garantiert, also Obacht.

Jan-Peter Wulf

Daniel Blumberg – On & On (Mute)

Ich höre Musik nicht der Gefühle, sondern der Ideen wegen. Im besten Falle allerdings beinhaltet und gibt sie mir beides. Daniel Blumberg hat bei einigen Indie-Bands gespielt, an deren Sound ich mich nicht erinnere, und vor zwei Jahren ein Album herausgebracht, das ich nie gehört habe. Seitdem mir aber Mitte Juni die Promo für sein zweites Werk „On & On“ in die Inbox trudelte, läuft es immer wieder bei mir durch. Ich höre mir Alben niemals zweifach hintereinander an, dieses aber jedes Mal. Schließlich geht es darum auch um Wiederholungen, ihre überwältigende Schönheit und bedrückende Banalität. Der älteste Trick des Songwriting-Handwerks: „On and on and on and on and on…“ singen. Form und Inhalt, Idee und Gefühl überschneiden sich. Dazwischen, darüber, daneben und drum herum singt Blumberg einen fragilen white boy blues, begleitet und umsäuselt von Echtzeitmusikeffekten aus dem Café-Oto-Umfeld. Ein bisschen erinnert mich das an Arthur Russell, wenn Jason Molina seine Songs geschrieben hätte. Klangliche Reduktion, emotionale Überfülle. Und da sind die Lyrics, die ich nicht verstehe, wie ich trotz eines literaturwissenschaftlichen Studiums Lyrics niemals verstehe und das auch nicht schlimm finde, weil Lyrics meistens gefühlvoll und ideenlos sind. Sie reißen mich wieder und wieder rein. Zeilenpaare – denn ums Paarsein oder dessen Unmöglichkeit, das begreife ich immerhin, geht es hier, wie allein die Form verrät – wie „Some have these second thoughts / Some understand“, „To be online forever / To be offline together“ oder „He loved my limitations / I'm the mess I want to be" winden sich immer wieder ins Bewusstsein, geben mir eine Idee von Gefühlen, die ich kenne und doch nie so präsentiert bekommen habe. Ich bin wenig gereist seit diesem „Sidestep Summer“, wie ein Song passender Weise heißt. „On & On“ aber war immer dabei, ob nun im Ohr, im Kopf, oder, tja, ja, scheiße: im Herzen.

Kristoffer Cornils

HG2020Blumberg

DJs

Dass das Businessmodell DJing in Schieflage geraten war, konnte man schon vor der Pandemie erkennen. Aber manchmal braucht es den Stillstand, damit die verschimmelte Plörre mal nach oben schwemmt. Im Frühjahr bettelten Millionärs-DJs wie Carl Cox, Nicole Moudaber und viele mehr um Geld für ihre armen Tour-Booker*innen, die ja nichts mehr zu tun haben. Dafür mixten die Superstar-DJs Clubmixe mit Tracks von Underground-Producern, die natürlich keinen Cent dafür sahen, um dann via Crowdfunding Kohle von armen Fans zu sammeln, um die malträtierte Booker-Szene auf Kurzarbeit zu schicken. Wie armselig und verachtenswert. Andere Ibiza-Star-DJs wurden kreativ und boten online Feedbackplattformen an: Also wenn man junger ambitionierter Beat-Producer ist und ein positives Feedback von Star-DJ ABC wünscht, dann bezahlt man ihm 40 Euro via Paypal und es kommt so was zurück wie: „Def gonna play this weekend, Kick could be lil more punchier.“ Hilfreich. Andere DJs versuchen sich als Coach und wollen in teuren digitalen Face-to-Face-Sessions Studiotricks verkaufen, die es auf YouTube eh zuhauf gibt. Den Vogel schoss natürlich Daniel Wang ab, der im DJ-Beef des Jahres, sich auf Facebook einmal kathartisch an Peggy Gou abschrieb. Ob der Tonfall der richtige war oder nicht, darüber lässt sich streiten, was aber Wang aufzeigt und auch aufzeigen wollte, ist das generell toxische Klima, das die „DJ-Szene“ seit Jahren verseucht. Und irgendwie wundert es auch nicht, dass es gerade von den besonders hoch dotierten DJs derzeit heißt, sie spielten alle irgendwo auf sogenannten exklusiven Plague Raves in Ländern wie Dubai, Saudi Arabien und Russland, veranstaltet von Scheichs und Oligarchen, nur, dass der Content eben nicht auf Instagram landet, weil ist ja keine offizielle Promo-Tour und in Deutschland könnten die Leute das ja falsch verstehen. Man macht ja nur seine Arbeit.

Ji-Hun Kim

Fliegende Untertassen, deklassiert

There is something out there. 2020 fand das Pentagon einen ganz neuen Weg, nochmal ordentlich auf die Verschwörungstheoriepauke zu hauen. Ende April veröffentlichte das Verteidigungsministerium drei frisch deklassierte Videos, die unbekannte Flugobjekte zeigen und schon einige Jahre zuvor geleaked wurden. UFO – Unidentified Flying Object – heißt ja nicht gleich Alien-Raumschiffe. Vergisst man hin und wieder gerne. Weil die gezeigten Flugobjekte jedoch sogar nach offizieller Veröffentlichung nicht identifiziert werden konnten und auch von Seiten des Pentagons keine Erklärungsversuche kamen, gab die ganze Nummer neuen Auftrieb für Narrative von Bob Lazar bis David Icke. Dabei sind Videos aus dem Jahr 2004 wirklich großartig anzusehen, scheinen doch selbst die US-Navy-Piloten fassungslos über die vor ihnen herumschwirrenden Flugobjekte zu sein. Eines davon fliegt gegen starken Wind von „120 Knoten westlicher Richtung“ an, wie der Dialog der Navy Piloten verrät. Nicht schlecht. Area 51: ein sagenumwobener Ort, der scheinbar direkt aus dem SciFi-Lehrbuch entnommen wurde, tatsächlich aber natürlich die US-Militärbasis in der Wüste Nevadas meint. Dort, wo Gerüchten zufolge Alien-Obduktionen und Untertassengeschraube stattfinden, gibt es seit Jahrzehnten immer wieder unzählige Berichte über UFO-Sichtungen. Um den Stimmen des Buschfunks, die über die Jahre von Geflüster zu Schreien herangewachsen sind, ein Ende zu bereiten, rief Matty Roberts 2019, damals Student in Kalifornien, über Facebook zum Stürmen des Geländes auf. Millionenfach klickten die wütende Menge auf „teilnehmen“, um die Nevada State Route 375, besser bekannt als Extraterrestrial Highway, mit Fackeln einzunehmen. Damit lösten sie eine kleine Krise in den oberen Rängen des Militärs aus; es kam aber nur halb so schlimm: Wie so oft wurde die Revolution wegen Party abgesagt. Seitdem ist der Flashmob zum Alienfestival mutiert – zumindest in Nicht-Coronazeiten. Erklärungensansätze für die Flugobjekte in den Videos und all jene, die in den letzten Jahrzehnten gesichtet wurden, gäbe es doch eigentlich genug. Bereits 2013 wurden Dokumente deklassiert, welche Testflüge mit einer vor 40 Jahren neuen Generation an Spionageflugzeugen enthüllte: Laut National Geographic begann die CIA Ende der 60er-Jahre mit dem Bau des Titanflugzeugs A-12, welches die Vereinigten Staaten innerhalb von 70 Minuten überqueren könne. Topspeed: 3540 km/h auf 27400 Metern Höhe. Die Titanumhüllung glänzt dabei so schön im Licht, dass die Ähnlichkeit zu Mainstreammedia-UFOs gar nicht so weit hergeholt ist. Und heute? Weil Dokumente erst Jahrzehnte später deklassiert werden, überschlagen sich die Theorien noch immer. Antworten gibt es also, wenn überhaupt, erst in 20 Jahren. Auch 2021 lautet die nie enden wollende Frage: UFO oder Sternschnuppe?

Julia Kausch

Freunde

Ich habe dieses Jahr einige Freunde verloren. Um im Nachrichten-Jargon zu reportieren: nicht an Corona, sondern mit. Je zäher sich die quälende Situation entwickelte und umso heftiger sich die Rückschläge manifestierten, desto klarer formulierten frühere brothers and sisters ihre Meinung. Ihr Kampf für bestimmte Branchen und kulturelle Praktiken ist adorable, aber eben doch vollkommen fehlgeleitet. Egal, wie reflektiert und offen man Menschen kennengelernt hat – ihr fast schon manisches Verharren und Festhalten an einer Szene mit angeschlossenem Sozialverhalten hat sie von der Realität disqualifiziert. Und damit auch von mir. Ich will – Stand Dezember 2020 – nichts hören über das Öffnen von Clubs. Weil wir alle wissen, wie Clubs funktionieren. Man kann sich sonstwas vornehmen: Nach zwei Bier oder einer halben Pille gilt nichts davon mehr. Ich will keine Videos mehr sehen von DJs, denen man früher vertraute und die als musikalische Bank galten, die erst lamentieren und dann für ein paar People, die in gesprühten Kreisen tanzen, auflegen. Geht nach Hause. Lest Bücher. Findet ein Hobby oder macht endlich mal wieder einen coolen Track. Eure verschissene Scheinheiligkeit kotzt mich an. Vergesst den Hedonismus der anderen, der euch jahrelang durchgefüttert hat. Werdet Menschen, die sich sorgen und kümmern.

Thaddeus Herrmann

Ghost of Tsushima

2020 war definitiv das Jahr für Heim-Entertainment. Weit vorn dabei: Videospiele! Mit dem Action-Adventure Ghost Of Tsushima (Sucker Punch Productions) kann man ganz unkompliziert ins Japan des 13. Jahrhunderts reisen. Als Spielerin schlüpft man in die Rolle des quasi letzten Samurais Jin Sakai, dessen Mission es ist, eine mongolische Invasion mit Guerilla-Taktiken zu vertreiben. Neben einem wirklich ausgefeilten und gut choreografierten Kampfsystem staunt man immer wieder über diese wunderschöne Insel. Wehendes Gras, atemberaubende Lichtstimmungen, farbig-fallendes Laub und Kirschblüten – selbst der spielbare Avatar Jin nimmt sich beim Reiten die Zeit um die Hand auszustrecken und die Vegetation zu fühlen. Es sind vor allem auch die Details, die das Spiel besonders machen. Statt mit Hilfe einer Minimap wird Jin mit einem richtungsweisenden Wind über die Insel geleitet, es gibt einen speziellen Kurosawa-Modus für cineastisches Feeling, Füchse führen zu versteckten Schreinen und lassen sich dann manchmal auch streicheln. Und in den (Neben)-Missionen werden ganz undogmatisch Themen wie Trauer, Demenz, Freundschaft und (gleichgeschlechtliche) Liebe verhandelt.

Susann Massute

Holger ruft an

Mein Lieblings-Podcaster 2020? Holger Klein. Gerne zusammen mit Katrin Rönicke in der Wochendämmerung, solo, bzw. in anderen Gesprächskonstellationen aber nicht minder gut, Klein stellt Fragen – bevor er selber loslegt, zu welchem Thema auch immer. Besonders deutlich wurde das 2020 in der noch relativ neuen Reihe „Holger ruft an“ für Übermedien. Es geht um – na klar – Medien und Medienpolitik. Um Phänomene, die auftauchen, ihre Runden auf Twitter drehen, oder – noch schlimmer – auch in der Tagesschau auftauchen. Holger informiert sich bei Mitarbeiter*innen eines der besten Medien-Watchdogs in Deutschland. Und sein Hintergrund in den öffentlich-rechtlichen Medien wirkt als Verstärker seiner Haltung: reflektiert, hinterfragend und fordernd.

Thaddeus Herrmann

Kalsarikännit

Die Finnen machen es anscheinend schon lange, in diesem Jahr dürften viele andere sich der Entspannungstechnik angeschlossen haben: Kalsarikännit lässt sich mit „sich in Unterhosen daheim betrinken“ ganz gut übersetzen.

Jan-Peter Wulf

Know Your Enemy

Leben über der Stadt / Wohnen unter dem Mietendeckel

Hängengeblieben 2020 Leben über der Stadt

Wenn ich mich nach links drehe, sehe ich den Fernsehturm. Geradeaus geht es vom Prenzlauer Berg in Richtung Wedding. Das Märkische Viertel glüht schräg rechts in der Ferne. Das ist die Aussicht vom 14. Stock eines Hochhauses, dessen offizieller Mieter ich seit dem 1. November bin. Berlin ist klein gewachsen, das lässt sich erst von hier aus betrachtet verstehen. Unter anderem auch deshalb wird unter mir um jeden Quadratmeter, ob kalt oder warm, gekämpft. Bei Vertragsunterzeichnung musste ich ein formloses Schreiben unterzeichnen: Ja, doch, ich nehme zur Kenntnis, dass sich meine Miete unter dem sogenannten Mietendeckel befindet. Ein paar Wochen später dann tritt der in Kraft und alle erzählen, was das mit ihrem Leben macht: Eine Freundin muss plötzlich nur noch die Hälfte bezahlen, was ihr allein deswegen gelegen kommt, weil sie die Neuköllner Drei-Zimmer-Wohnung ursprünglich mit ihrem Freund bezogen hatte, der genau das nicht mehr ist und sich aus dem Staub gemacht hat. Andere suchen rechtlichen Beistand, weil ihr Vermieter natürlich keine Bereitschaft zeigt, sich dem neuen Gesetz – es könnte schließlich noch gekippt werden – zu beugen. Dieses, jenes, alles furchtbar existenziell und doch anekdotisch. Derweil stehe ich auf dem Balkon über der Stadt, unter dem Mietendeckel, und frage mich, warum nicht einfach alle diese Aussicht haben können. Und das einzige, was mir dazu einfällt, ist dies: Das Hochhaus, das langsam zu meinem Zuhause wird, wurde von einem anderen System als dem unseren hochgezogen.

Kristoffer Cornils

Medienberichterstattungsmonotonie

Das letzte Mal habe ich vor etwa einer Woche in einer Zeitung geblättert, oder Nachrichten geschaut. Corona-Koller pur! Meine Augen sind mittlerweile so trainiert, dass sie beim Wort „Corona“ sofort den nächsten Artikel scannen. Ja, ich kenne die AHA-Regeln, ich weiß, wie eine leere Innenstadt aussieht, dass ältere Menschen besonders bedroht sind und Ärzt*innen einen großartigen Job machen. Es ist nicht nur das immergleiche Thema, sondern oft auch die dieselben Informationen, die einen so ermüden. Zuletzt gab es ab dem 11. September 2001 einen so einschneidenden Fokus auf ein zentrales Thema, auch wenn die beiden Ereignisse und ihre Auswirkungen natürlich komplett unterschiedlich gelagert sind. Die Bildgewalt der Terroranschläge hat Corona nicht zu bieten. Corona ist unsichtbar, lässt sich nicht malen, man kann das Virus nicht anfassen, es hat kein böses Gesicht – also extrem ungünstig für mediale Storyteller. Dennoch entwickelt sich der Plot rund ums pandemische Geschehen als permanentes Bedrohungsszenario mit all seinen Kapiteln und Protagonisten kontinuierlich weiter. Und was passiert sonst so? Wird auf belarussischen Straßen jetzt härter durchgegriffen, schaut ja eh gerade keiner hin? Laufen Schlepperbanden gerade zur Hochform auf, weil die Kameras woanders draufhalten? Und wo ist eigentlich Boris Johnson gerade?

Matti Hummelsiep

Merchandise

Wenn Musiker*innen mit Plattenverkäufen kein Geld mehr verdienen, so hieß das Mantra des 21. Jahrhunderts in der Popmusik, dann sollen sie eben live spielen. Wenn im Jahr 2020 aber mit live auch kein Pfifferling mehr ranzukarren ist, was bleibt dann? Merchandise. In den 90ern wusste ich schon, oder zumindest wurde das kolportiert, dass eine Band wie Rage Against The Machine oder Sick Of It All mehr an Hoodies und Shirts verdient als mit CDs. Band-T-Shirts waren so gesehen damals schon eine Art Crowdfunding. Dieses Jahr war für viele Kreative Merchandise der einzige Weg, überhaupt an Umsatz zu kommen. Limitierte Editionen von Künstler*innen wie Wolfgang Tilmans für Groove und Robert Johnson, liebevolle Goodies vom Paloma gestaltet von Alex Solman. Die Solidarität war zu spüren und wäre die Gesamtsituation nicht so düster, könnte man sagen, es war ein gutes Jahr für Merchandise, weil doch viele tolle Sachen entstanden sind und gerade Indie-Labels und Artists mit guten Ideen unsere grauen Alltage schöner gemacht haben.

Ji-Hun Kim

HG 2020 Sprache und Sein

Museum der Sprache

Kübra Gümüsays Buch „Sprache und Sein“ ist für mich das Buch des/meines Jahres. Der Titel klingt nach hardcore theory, aber es ist ein wundervolles „Sachbuch“, eigentlich ein Essaybuch, das zugänglich, aber bestimmt vor Augen führt, wie Sprache unsere Welt definiert – und wie sie Menschen Rollen und Identitäten zuweist bzw. sie diskriminiert. So wie das „Happyland“ von Tupoka Ogette in „Exit Racism“ die weiße Welt ohne Erfahrung von Rassismus an buchstäblich eigener Haut offenkundig macht, zeigt Gümüsay, und das mit bemerkenswerter Leichtigkeit in der Sprache, wie Begrifflichkeiten und Wortwahl unsichtbare Käfige bauen und diese Menschen einsperren. Wer kuratiert die Sprache, wer also definiert, was ins Museum kommt und was nicht? Stürmen wir den white (!) cube und machen die Welt so ein bisschen besser. Unbedingt empfehlenswert.

Jan-Peter Wulf

Nachtleben

Ich war vor vielen Jahren mal auf einer ziemlich privilegierten Luxus-Pressereise in Miami. Wir hatten dort das Pech des schlechten Wetters, was in Florida nur allzu selten ist. An einem verregneten Tag fuhr ich trotzdem kurz in die Innenstadt und war erschrocken, wie finster die Straßen waren. Wie wenig Leute unterwegs sind – wenn eben nur noch jene draußen sind, die draußen sein müssen, weil sie nicht wissen, wohin. Unsere hiesigen Stadtbilder sind heute vor allem nachts ähnlich. Zwar bin ich auf der einen Seite erstaunt, wie ruhig am Wochenende Kreuzberg sein kann ohne U-Bahn und ohne Tourismus. Aber Freunde erzählten mir, dass die Straßen sich gerade nachts in Berlin immer unsicherer anfühlten. Sind ja nur noch die draußen, die draußen sein müssen. Irgendwie lässt sich das doch seltsam, ungerecht und bitter an. Ich weiß selber zum Beispiel gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal nach 12 nachts draußen unterwegs war. Dieses Jahr vielleicht gar nicht.

Ji-Hun Kim

Normal People (BBC Three/Hulu)

Die auf Sally Rooneys gleichnamigen Roman basierende BBC-Three-Serie Normal People erzählt ein und dieselbe Geschichte auf zwei verschiedene Arten. Da ist der Plot, der schnell zusammengefasst ist: Marianne (Daisy Edgar-Jones) kommt aus reichem Haus und Connell (Paul Mescal) nicht, trotzdem oder gerade deswegen verlieben die beiden sich ineinander und packen es aber über ein paar Jahre hinweg nicht ganz, daraus eine Beziehung zu machen. Sie strudelt in Affären hinein und wird darüber zur devoten Sexpartnerin von Sadisten, er geht malochen und versenkt ansonsten den Kopf in den Büchern. Sie finden und verlieren sich, finden und verlieren sich. Das Ganze wird im Modus eines Realismus erzählt, der weichgezeichnete Gegenlichteinstellungen verwendet, wenn Liebe den Raum erfüllt, und störende Alltagseffekte einsetzt, wenn sich damit die Tragik einer Situation verstärken lässt. Nach einer Auseinandersetzung plärrt das Autoradio kurz los, beim Sex wird gekeucht und nicht alles läuft glatt, irgendwer lässt jemanden ins Haus und stellt eine Frage, die sofort in der Luft verpufft, weil die Antwort egal ist. Die ästhetische Lebensnähe, die das Regieduo Hettie Macdonald und Lenny Abrahamson mit diesen kleinen Kniffen ebenso meisterhaft wie manipulativ konstruiert, hat aber einen doppelten Boden: In die relativ schwurbelige Illusionsbildung wird eine knallhart materialistische Dimension eingewoben, deren Effekte dezent angedeutet und die doch niemals direkt in den Fokus gerückt werden. Da ist Connells greifbare Unsicherheit, wenn er sich in Räumlichkeiten bewegt, die außerhalb seiner sozio-ökonomischen Sphäre liegen, seine ersten Seminare am Trinity College, in denen er bemerkt, dass ihm alle anderen voraus oder zumindest nicht am eigentlichen Lesestoff, sondern dessen politischen Implikationen interessiert sind. Und da ist Marianne, deren Scham darüber, alles zu haben und doch nicht davon erfüllt zu sein, sie zur ständigen Neuerfindung und Rekontextualisierung ihrer Selbst drängt, von Szene zu Szene. Normal People verdeutlicht mit unvergleichlicher Subtilität und damit fast unmerklich die Subtilität von Klassenzugehörigkeit - wie sie das Miteinander zu zweit und in Gruppen, die Erfahrung von Kultur und Politik auf Arten prägt, die nicht an implizite oder explizite Diskriminierung gebunden, sondern kollektiv und individuell so dermaßen tief internalisiert sind, dass sie selbst unter dem eigentlich schnell zusammengefassten Plot glatt übersehen werden könnten.

Kristoffer Cornils

Planung

Eigentlich ist bei mir nichts, was dieses Jahr geplant wurde, in Erfüllung gegangen. Der große Asienurlaub im Frühjahr, gecancelt, Team-Workshops mit Das Filter, damit neue Konzepte ausgedacht werden können, gecancelt. Alternativurlaub in Portugal, damit man überhaupt wohin kommt, gecancelt. Wellness-Wochenende an der Ostsee im Herbst, gecancelt. Sterneküchen der Stadt zum Lunch besuchen. Auch nicht. Mit dem Presseausweis endlich mal wieder Museen besuchen, kssss. Arbeitsprojekte im geplanten Timing schaffen, natürlich auch nicht. Waren ja auch zwei Lockdowns dazwischen. Es gibt für mich ja wenig Schöneres, als wenn ein gut ausgedachter Plan aufgeht. Dann freue ich mich wie Hannibal im A-Team. Ich habe das Planen aber aufgegeben. Zumindest vorläufig. Bei vielen Menschen im Umfeld merke ich indes, wie sehr deren Arsch auf Grundeis gehen, wenn Pläne nicht eingehalten werden können. Da kommt Panik, Stress, Unsicherheit und schlechte Stimmung so schnell zusammen, dass man sich fragt, was wir denn aus diesem Jahr überhaupt noch lernen oder mitnehmen wollen, wenn nicht wenigstens das: Die Dinge auch mal mit Ruhe, Abstand, mediterranem Laissez-faire und Gelassenheit versuchen zu lösen. Halt einfach mal im Inneren einen Plan haben, statt verfehltes obsoletes Projektmanagement zu betreiben.

Ji-Hun Kim

qr code

QR-Code

Lange verkannt, nun ein Gewinner dieses Jahres: So viele Codes abgescannt, um zum Beispiel eine Restaurantkarte einsehen zu können, habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht wie 2020.

Jan-Peter Wulf

Reparieren und Verschenken

Mal ehrlich: Wenn der Fön seinen Geist aufgegeben hat, kommt er in die Tonne. Weg damit. Oder die Kaffeemühle. Tut sie nicht mehr – auch in die Tonne. Natürlich in die richtige. Viele von uns machen das so, obwohl eigentlich jeder weiß, dass es falsch ist. Im vergangenen Jahr hab ich dazu gelernt. Man schmeißt nicht alles gleich weg, man lässt es reparieren. Doch man will es gar nicht immer wiederhaben, sondern stellt es zum Wiederverkauf zur Verfügung. Das funktioniert an vielen Orten. Zum Beispiel im Karstadt-Kaufhaus in Berlin-Neukölln. Im dritten Stock gibt es jetzt die re-use-Abteilung. Eine Riesenfläche, auf der Gebrauchtes repariert wird. Dabei entsteht viel Neues und wird für wenig weiterverkauft. Das kommt gut an.

In der re-use-Abteilung bei Karstadt ist jetzt immer viel los. Selbst in Corona-Zeiten sind viele interessierte Kund*innen da. Gerhard (64) ist einer, der Kaputtes entgegennimmt und weiterleitet an eine Werkstatt, die für die Reparatur zuständig ist. Ein älterer Mann steht an der Abgabestelle für Gebrauchtes. Er hält ein altes Bügeleisen in der Hand. Es funktioniert nicht mehr. „Ich will es hier abgeben und reparieren lassen. Aber wiederhaben – nee, ich brauche es nicht mehr“. Gerhard am Abgabeschalter nimmt das Bügeleisen in die Hand und meint, eine Reparatur würde sich lohnen. Neben dem Abgabeschalter für Gebrauchtes wird gerade ein Rollständer mit schicken Klamotten platziert. Jacken, Hemden und Jeans in bunten Farben. Elena rollt die Sachen in die Abteilung und erzählt, dass sie zu einer Gruppe von jungen Modemacherinnen gehört, die aus Altem Neues machen. Im Textilhafen zum Beispiel. Das ist eine riesige umgewidmete Fabrikhalle im Prenzlauer Berg. Hier gibt es alles: gebrauchte Klamotten ohne Ende, alles gespendet, eigentlich für Menschen, die auf der Straße leben und auf solche Angebote angewiesen sind. Aber weil die Spenden im Überfluss kommen, können und sollen auch Menschen zugreifen, die eigentlich alles haben, aber ein neues Bewusstsein praktizieren. Nämlich auch gebrauchte Klamotten kaufen und auch tragen. Für zwei Euro kann hier jeder und jede eine Hose, einen Pullover oder zwei, drei T-Shirts kaufen. Nur Schuhe kosten ein bisschen mehr. Das Projekt hat die Berliner Stadtmission gegründet und es funktioniert. Ich hab auch gleich zwei T-Shirts mitgenommen – für drei Euro. Und die sind wunderbar.

Gibt es ein neues Denken und Handeln, mehr Verantwortung für die Umwelt, mehr Achtsamkeit für das, was da ist und gut ist? Ich glaube ja und denke an den jungen Mann, der auf der Straße in Moabit seine gebrauchten aber völlig intakten Gartenmöbel verschenkt hat. Einfach so. Oder die Verschenkaktionen in meinem Kiez: Auf Tapetentischen liegen Dinge, die in vielen Haushalten überflüssig geworden sind, woanders aber fehlen. Man kann sie einfach mitnehmen. Außerdem: Man lernt sich kennen, redet über dies und das und macht wunderbare Nachbarschaftserfahrungen.

Ist Corona möglicherweise „schuld“ daran, dass viele Menschen jetzt anders denken und handeln, sich fragen, was wirklich wichtig ist? Keine Ahnung, aber es tut sich was und ich hoffe, dass es auch nach Corona so weitergeht.

Monika Herrmann

RhabarberRhabarber

Interview-Podcasts sind momentan allgegenwärtig. Das Konzept ist aber auch einfach gut, denn anders als bei Interviewformaten des TVs oder des Radios ist die Sendezeit eines Podcasts im Prinzip unbegrenzt. Ein Gast kann aus diesem Grund über jedes noch so kleine Detail befragt werden und, wenn er oder sie es will, ungewöhnlich tiefe Einblicke in sein Schaffen oder auch in sein Privatleben geben. Ganz besonders exzessiv macht der Zeit-Podcast „Alles gesagt?“ von diesem Prinzip Gebrauch, denn er endet erst dann, wenn der Gast ein zu Beginn festgelegtes Safeword nennt. Eine Folge kann so bis zu acht Stunden dauern, muss aber natürlich nicht an einem Stück gehört werden, sondern kann auch in diverse Koch-Sessions, Abwäsche und Joggingrunden, oder was man sonst noch während einer Pandemie macht, gestückelt werden. Mit Mai Thi Nguyen-Kim, Alice Hasters und Igor Levit waren 2020 gleich drei Personen eingeladen, die sicher auch in der ein oder anderen Talkshow zum Jahresende zu Gast sein werden. In den Jahren zuvor ging es bei „Alles gesagt?“ deutlich weniger divers zu. Die Folgen mit Herbert Grönemeyer, Tim Raue oder Ulrich Wickert habe ich aber dennoch sehr gerne gehört und musste feststellen, dass die Interviewten mir nach den vielstündigen Gesprächen deutlich sympathischer als vorher waren. Dies lag vermutlich auch daran, dass die beiden Gastgeber des Formats Christoph Amend und Jochen Wegner mit ihren selbstbezüglichen Geschichten über vegane Donuts am Potsdamer Platz, Sushi im Prenzlauer Berg, das ach so neumodische Leben in Friedrichshain ohne eigenen Fernseher oder die „freakige“ Liebe zu teureren Turnschuhen aus Mitte-Boutiquen häufig gehörig auf die Nerven gingen und es allen anderen ziemlich leicht machten, neben ihnen zu glänzen.

Mit dem Podcast „Hotel Matze“ des ehemaligen Virginia-Jetzt-Bassisten Matze Hielscher habe ich ebenfalls viele sozial distanzierte Stunden verbracht. Hier bekommt man häufig Gäste aus dem Mainstream der deutschen Kulturlandschaft sowie irgendwelche Entrepreneur*innen oder Business-Neudenker*innen präsentiert. Warum ich mir das stundenlang angehört habe, weiß ich eigentlich auch nicht. Denn zumeist stellte sich bei mir beim Zuhören recht schnell der genau gegenteilige Effekt wie bei „Alles gesagt?“ ein: Die Interviewten wurden mir von Minute zu Minute unsympathischer und kamen mir selbstverliebt und wichtigtuerisch vor. Vermutlich lag auch dies wieder an der Gesprächsführung des Gastgebers, dessen etwas biedere Normalo-Art nicht gerade raumgreifend wirkt.

Genau den richtigen Ton trifft für mich ein anderer Bassist: Jan Müller von Tocotronic, auch wenn seine Ausführungen über seine eigene Band manchmal so klingen, als handele es sich bei dieser um eine Schülerband, die von Zeit zu Zeit mal ein kleineres Konzert im deutschsprachigen Raum bestreitet, und nicht um eine der einflussreichsten Indie-Bands des Landes. Für seinen Podcast mit dem Titel „Reflektor“ trifft er auf den ersten Blick sehr unterschiedlich wirkende Musiker*innen wie Xatar, Annett Louisan oder Reinhard Mey. Dabei ergeben sich faszinierende Gespräche auf Augenhöhe über die ersten Schritte im Musikgeschäft, künstlerische Ziele, Höhepunkte und Rückschläge sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Solche Interviews sind ein tolles Gegenmittel für fast alle Arten pandemischer Frustration.

Tim Schenkl

Quer Denken

Wenn es angebracht ist, ist queres Denken etwas Gutes: „Think outside the box“ ist ja nicht nur im politischen Sinne gemeint, sondern auch im kreativen, persönlichen, beruflichen Bereich. Warum aber werden diese Leute, die regelmäßig über die Bildschirme flimmern und in den medialen Demo-Charts die Klimaaktivisten auf die hinteren Plätze verwiesen haben, als quer denkende Menschen bezeichnet? Ich sag mal so: Es handelt sich hierbei eher um einen zusammengewürfelten Haufen von Rassisten, stoischen Neinsagern und windigen Scharlatanen, die sich in einer bräsigen, grotesk übertriebenen Überzeichnung der Realität und durch ihr ganzes Brimborium vor allem ihrer eigenen Freiheit berauben. „Think outside the box of the box.“

Matti Hummelsiep

Ruth Bader Ginsburg

HG2020 RBG

Foto: By Supreme Court of the United States - <a rel="nofollow" class="external text" href="http://supremecourthistory.org/history-of-the-court/the-current-court/justice-ruth-bader-ginsburg/">Supreme Court of the United States</a> (<a rel="nofollow" class="external text" href="https://www.supremecourt.gov/about/biographies.aspx">Source 2</a>), Public Domain, Link

The Notorious RBG ist von uns gegangen. Timing war selten so eine Bitch wie in diesem Jahr. Ganz oben auf der Liste: Der Tod Ruth Bader Ginsburgs. Seit 1993 war Ginsburg beisitzende Richterin am US-amerikanischen Supreme Court, Ikone des Feminismus und eine Fitness-Sensation, die „20 Push-Ups schafft und zwar nicht die sogenannten Mädchen Push-Ups.“. Seit den 1970er-Jahren wirkte sie als Teil der ACLU (American Civil Liberties Union) beim Kampf für Equal Rights Amendments in den USA mit. Obwohl Diskriminierung aufgrund von Rasse mit den 13., 14. und 15. Amendments adressiert wurden, blieb Geschlechterdiskriminierung lange Zeit bestehen. RBG versuchte also vor Gericht davon zu überzeugen, dass Rasse und Geschlechterdiskriminierung, wenn schon nicht dieselbe Hausnummer haben, zumindest doch in derselben Straße angesiedelt sein müssten. RBG ging also dem diskriminierenden Gedankengut an den Kragen. Die damals geltenden Stereotypen: Frauen – geistig und körperlich unterlegen – müssten vom stärkeren Geschlecht beschützt werden. Vom Gegenteil zu überzeugen galt es also vor allem die vermeintlich überlegenen Männer. RBG suchte dafür gezielt nach Fällen, in welchen Männer aufgrund ihres Mannseins diskriminiert wurden. Als eine Fraternity in Oklahoma also 1972 große Mengen Bier für die nächste Party brauchte, sah RBG ihre Chance. Zu dieser Zeit konnten Männer erst ab 21 Jahren, Frauen jedoch bereits mit 18 Jahren Bier kaufen. Frauen, so hieß es, seien verantwortungsbewusster. Of course. Dieser Fall der „Thirsty Boys“ landete dabei gar nicht bei Ginsburg, sondern Dan Gilbert, seinerseits selbst unter seinen Zeitgenossen chauvinistischer Arsch, dem RBG ihre Hilfe für seine Verhandlungsvorbereitung anbot. Zu dieser Zeit war sie Vorsitzende des Frauenrechtsprojekts der ACLU und hatte so bereits selbst Geschlechterdiskriminierung vor dem Supreme Court verhandelt.

Nicht ganz unerwartet setzte Gilbert die ganze Sache ordentlich in den Sand. Alles umsonst? Bitch please! Auftritt RBG: In weiser Voraussicht hatte sie ihren eigenen Supreme-Court-Fall, der sich um Frauenrechte drehte, im Anschluss an Gilberts Fall gelegt und so vor demselben Richter verhandelt. Die Ähnlichkeit der beiden Fälle lag selbst für den Richter nahe, der RBG nach ihrer Meinung zu Gilberts Fall fragte: Ob Diskriminierung gegen Männer wie in diesem Fall anders behandelt werden sollte als Diskriminierung gegen Frauen? Ihre Antwort: Die Frage, ob Gender als Klassifizierung für Gesetzte dienen sollte, sei höchst fragwürdig – egal ob Mann oder Frau betreffend. Der Richter, kurz irritiert, ließ sich wohl überzeugen, womit RBG den Grundstein für Frauenrechte in den USA legte: Das Biergesetzt wurde gekippt und fortan als Vorlage für spätere Geschlechterdiskriminierungsfälle herangezogen. RBGs Sitz im Supreme Court wurde kurz nach ihrem Tod von Noch-Präsident Trump besetzt: Amy Coney Barret – erzkonservativ und gegen vieles, wofür RBG stand. Dabei hatte Trump doch darauf bestanden, dass Obama den Sitz des 2016 verstorbenen Antonin Scalias solange freihält, bis die damaligen Wahlen gelaufen waren. Timing is a Bitch, leider.

Julia Kausch

Simulation

In Steven Spielbergs Film „Ready Player One“ von 2018 wird eine runtergerockte Welt gezeigt, die im Digitalen und Virtuellen eigentlich viel bunter und besser ist als jene in echt. In der Serie „Upload“ gibt es ebenfalls eine zuckerbunte VR-Welt, die sich quasi post mortem den Usern öffnet und Dinge anbietet, die man als reale Kohlenstoffverbindung so auch nie erleben dürfte. Ich habe dieses Jahr aus Gründen viel simuliert – und was nicht alles simuliert wurde. Anfang des Jahres war ich noch Profi-Snowboarder (Steep) inklusive Red-Bull-Deal, dann baute ich über Monate eine Insel mit fünf Sternen auf (Animal Crossing: New Horizons) – inklusive Gärtnern, Museum kuratieren und Open-Air-Festival veranstalten. Dazwischen kamen noch eine Golfer-Karriere (PGA Tour 2K21), eine Fußballer-Karriere (FIFA 21), Skater-Karriere (Tony Hawk) und mit dem Autorennen zögere ich noch, weil ich eigentlich dafür einen Rennsitz und Lenkrad haben möchte, um so richtig in das Sim-Racing einzusteigen. Ist halt echt platzfressend und unschön. Dieses Jahr gab es noch den legendären „Flight Simulator“ von Microsoft, den ich bislang nicht spielen konnte, weil weder PC noch Xbox. Aber gerade der Titel zeigt, an welcher Stelle wir uns im Bereich Simulation noch befinden. Ziemlich am Anfang, mit viel Luft nach oben und was bleibt uns derzeit übrig, als Simulationen zu spielen? Diesen Herbst erschien mit „Fuser“ sogar ein Game, das uns das Nacherleben einer DJ-Karriere ermöglichen soll. Da bleibe ich lieber Wundertalent bei Tottenham Hotspur und schieße mit Son und Kane Traumtore. Wer will denn heute noch DJ werden?

Ji-Hun Kim

Takeaway-Müll

Müll

Weil die Restaurants zu sind bzw. niemanden rein lassen dürfen, verkaufen sie Essen zum Mitnehmen. Nachvollziehbar. Doch was das an Müll erzeugen wird, ist noch gar nicht abzusehen. Die Abfall-Bilanz von Einweggeschirr und To-go-Verpackungen betrug im Jahr 2017 mehr als 346.000 Tonnen. Dass sich diese irre Menge 2020 deutlich erhöhen wird, liegt auf der Hand bzw. auf der Straße. Laut einer Studie des Umweltbundesamtes und des Verbands Kommunaler Unternehmen machen Plastik- und Verpackungsmüll im Volumen mehr als 40 Prozent des Kehrichts aus. Es gibt mittlerweile ein paar Mehrweg-Systeme, wie man sie von den Kaffeebechern kennt – die heißen z.B. Rebowl, Tiffinloop oder Vytal –, aber ob/bis die sich wirklich durchsetzen ... man wird sehen. Angeblich will die Umweltministerin auch diesem Thema an den Kragen, aber hey, die SPD in der großen Koalition, merkste selbst. Wiedervorlage Rückblick 2021.

Jan-Peter Wulf

Techno

Es gibt doch die alte salonphilosophische Frage: Was für ein Geräusch macht ein Baum, wenn er umfällt, aber keiner ihn hört? Anders bzw. angepasst an die Gemengelage möchte ich die Frage stellen: Wer braucht heute noch eine wuchtige, harte Festival-Techno-Bassdrum, die dafür ausgelegt ist, nach dem Drop Tausende Menschen physisch durchzuschütteln? Anyone? Ich fand es schon interessant, wie viele tumbe Techno- und House-Promos dieses Jahr dennoch meinen Mail-Folder überfüllten. Wie wenig reagiert wurde, wie man einfach denkt, man wird ja schon weitermachen können. Kommt ja alles wieder. Oder haben alle Producer nur ihre Festplatten aufgeräumt? Noch nie hat sich für Techno als Musikgenre derart die Existenzfrage gestellt. Wie werden wir nächstes Jahr Techno hören? Darf ich mich ins Watergate oder ins Berghain als Privatperson einmieten, um über die Club-PA paar alte Brecher aus der Jugend mit meinem Haushalt zu hören? Kaufen wir jetzt alle Subwoofer für die eigene Wohnung, um den Wumms von Techno wieder ein bisschen zu fühlen? Klappt das mit den Nachbarn? Oder kommt gar die Musikalität in die Clubmusik zurück, damit die Tracks auch im Auto noch erträglich sind? Ich glaube ja weiterhin an den guten alten Partykeller. Die unzähligen Techno-Streams dieses Jahr haben nämlich eines gezeigt. Ohne gemeinsamen akustischen Raum ist Techno einfach nichts. Es ist ein abstraktes Artefakt und es braucht in den Kontexten einfach mehr, als mit sicheren Funktions-Floorfillern die Leute bei Laune zu halten, die ja viel Geld für Club- oder Festivaleintritt bezahlt haben. Die Leute zuhause machen ihren Rechner ob des nervigen Geballers ohne Tiefgang nämlich einfach zu.

Ji-Hun Kim

Teenager

Es gibt ihn wieder. Den großen Streit der Generationen. Das hatte sich die Jahre davor mit „OK Boomer“ und Fridays for Future zwar schon abgezeichnet. Aber wie wurde dieses Jahr auf die jungen Menschen geschimpft und getreten, als wären sie die einzigen Pandemietreiber dieses Jahr gewesen und nicht Clemens Tönnies, Kultusminister, die nichts auf die Kette gekriegt haben oder tausende verzogene egoistische Querdenker. Ich möchte mich mal für die jungen Menschen aussprechen, denn sie tun mir leid. Was gehörte für uns zum Erwachsenwerden dazu? Das Abi machen, laut feiern, mit Freundinnen und Freunden paar Monate Interrail, Jahr im Ausland, das erste Uni-Semester, hundert neue Freunde auf dem Campus kennenlernen, mit fremden Menschen Drogen nehmen, auf Festivals gehen, von denen die Eltern natürlich nichts wussten, die erste WG, Sex, all das. Oder sich doch der musikalischen Karriere widmen oder doch gar Künstler*in? Kurz, sich ein eigenes Leben aufbauen. Ich kann mir nur schwerlich vorstellen, wie ein Teenagerleben dieses Jahr ausgesehen haben muss. Wenn man 18 ist und plötzlich jeden Abend mit Papa und Mama Scrabble während des Lockdowns spielen soll, wo es bei uns noch darum ging, so wenig Zeit wie nur wissenschaftlich möglich daheim zu verbringen.

Ji-Hun Kim

Touch

Hängengeblieben 2020 Touch

Es gibt nicht viel, das es in diesem Jahr wert ist, erinnert zu werden. Es ist ja nichts passiert. Anfang Juni radelten ich und eine Freundin hinaus in den Berliner Tierpark. Das Wetter war großartig, der Sommer hatte gerade seine Warteposition verlassen. Der Tierpark – für alle Nicht-Berliner*innen – ist einer von zwei Zoos, weitläufig und wunderbar. Da ist es fast egal, ob man nun Tiere sieht oder nicht. Hier – am östlichen Rand der Stadt – haben sie deutlich mehr Platz als im Zoologischen Garten im Westen zwischen dem gleichnamigen Bahnhof, der City und dem Ku’damm. Wir aßen Pommes, saßen auf Bänken, rauchten Zigaretten, machten Fotos – und suchten eigentlich doch nur den Streichelzoo. Ich weiß nicht genau, wie viele Menschen ich 2020 in den Arm genommen habe – vielleicht fünf (danke, J, S, M, H und C). Den Schafen erstens nahe zu kommen und zweitens durch ihre dichte Wolle zu fahren, war mit das Schönste, an das ich mich erinnern kann. Ein Lebewesen – warm, lebendig und trotz allem empatisch. Wenn es meine Berührung durch das dicker Fell überhaupt bemerkt hat. Gestört hat es jedenfalls nicht. Mama-Schaf und Baby-Schaf trollten einfach rüber, ließen sich knuddeln und gingen wieder. Genau wie wir. Die leider namenlosen Schafe wurden in ihrer Empahtie nur noch getoppt von einer jungen Hunde-Dame namens Bowie, mit der ich im Sommer die eine oder andere Minute auf dem Community-Dach meines Wohnhauses verbringen durfte. Harte Liebe, nach einer harten Phase der Unsicherheit. Was will der Typ? Kann ich dem trauen? Ja, kannst du.

Thaddeus Herrmann

Video-Lektionen in Sachen Handarbeit

Mein erstes Erfolgserlebnis mit einer Videoanleitung hatte ich ungefähr vor zehn Jahren, als ich den defekten Riemen meines DDR-Plattenspielers mit einem Kondom (der obere Ring – funktioniert wirklich!) ausgetauscht habe. Mittlerweile gibt es auf einschlägigen Plattformen für fast alles eine Anleitung – die Spülmaschine reparieren, einen Olli machen, schicke Keramik produzieren, richtig gute Streiche spielen oder sich die Schuhe zu binden. Die Heimprojekte stiegen aus bekannten Gründen in diesem Jahr in ungeahnte Höhen. Ich hörte von Sauerteigexperimenten, selbst eingemachten Gemüse oder virtuellen Gitarrenstunden. Mithilfe von YouTube und Instagram nahm ich das Handarbeiten auf, ich lernte zeitgemäßes Teppichknüpfen mit der sogenannten Punchneedle-Technik (auch: Rughooking). Und so bescheuert biedermeiermäßig sich das anfühlt, das hier aufzuschreiben: Ich war so stolz, als ich nach dem ersten Lockdown einen kleinen Teppich fertigstellte und eine neue, meditative Technik erlernte.

Susann Massute

Vendée Globe 2020

Anfang November begann an der französischen Atlantikküste die härteste Einhandregatta (also, ein*e Segler*in) der Welt. Alle vier Jahre findet die Vendée Globe seit 1989 statt. Die Teilnehmer*innen umsegeln dabei einmal die Welt entlang des Südpolarmeers, das sind je nach Kurs etwa 24.000 Seemeilen (44.448 Kilometer). Ohne an Land zu gehen, zu halten oder fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Weltrekord liegt derweil bei 74 Tagen, 3 Stunden, 35 Minuten und 46 Sekunden (aufgestellt von Armel Le Cléac’h 2016/17). Für drei Monate haben die Teilnehmer*innen Nahrung dabei; Navigation, Segelkommandos und Reparaturen müssen sie selbst ausführen und dabei können sie meist nur ein bis zwei Stunden am Stück schlafen. Normalerweise begeistern mich so langfristige Sportevents nicht so sehr, aber im Pandemiejahr ist das so eine herrliche, Corona freie Ablenkung. Jeden Morgen werfe ich einen Blick auf den Tracker, die Teilnehmer*innen haben natürlich auch Social-Media-Profile und so kann man aus erster Hand die Selfies mit Albatrossen oder mit bedrohlicher Fünf-Meter-Wellenkulisse begutachten. Und es passiert auch ständig etwas: Es gab schon eine spektakuläre Rettungsaktion nachdem Kevin Escoffiers Boot sank sowie herzzerreißende Verabschiedungen nachdem schon einige Teilnehmer*innen wegen Bootsschäden nicht mehr teilnehmen konnten. Im Januar werden die ersten dann zurück in Frankreich erwartet – die Ablenkung wird mir fehlen.

Susann Massute

WANTED: A Star is Missing

2020 brachte die galaktische Antwort auf Lady Gagas „A Star is Born“ oder ja eher der Originalversion von 1937, die seither dreimal neu verfilmt wurde. Die Gegengeschichte lautet etwa so: Ein Stern in einer Galaxie weit, weit weg, genauer 75 Millionen Lichtjahre entfernt in der Kinman Dwarf Galaxie, leuchtet, wie es Sterne eben so tun, am Nachthimmel. Nicht, dass er mit bloßem Auge oder sogar mit einem Teleskop erkennbar gewesen wäre. Vielmehr haben Wissenschaftler*innen nach der Signatur des Sterns gesucht, welche in Form eines blauen Abdrucks in ihrer Galaxie hinterlassen wird. Im Juli erreicht die Welt dann die erschreckende Nachricht: Der Stern ist verschwunden. Sein Gesicht seither auf Flyer gedruckt, der Schriftzug WANTED darüber. Ein Spoiler vorweg: Gefunden wurde er nicht. Der Stern wurde seit rund zehn Jahren vom European Southern Observatory in Chile beobachtet und verschwand von einem Tag auf den anderen, als hätte ihn jemand ausgeknipst. Was zunächst nicht sehr aufregend klingt, ist in der Astrophysik eine echte Neuheit: Sterne gehen nicht einfach aus wie Kerzen. Stattdessen endet ihr Leben in einem großen Knall – einer Supernova. Zurück bleibt ein schwarzes Loch. Nicht aber bei diesem Stern. „Gone without a bang“, sagt Astronom Iair Arcavi der Tel Aviv University gegenüber dem Atlantik. Natürlich gibt es auch andere Erklärungsversuche über das Verbleiben des Sterns: So könnte er etwa an Ariel-Leuchtkraft verloren haben oder aber gar kein Stern gewesen sein. Das Universum gibt so einige Mysterien auf, welche nicht immer lösbar sind. Gone without a bang – vielleicht eine Option für Spätfolgen von 2020?

Julia Kausch

Weihnachten, frohe

Statt nur rum zu motzen, wie fürchterlich 2020 war, hab ich lieber ein Meme gebastelt, das auch im kommenden Jahr noch gültig ist – so heißt das doch, oder? Meme? Als ich so alt war wie ihr, hieß das einfach nur Bilderwitz und wurde in der Hörzu abgedruckt. Nicht schlecht, oder? Es ist aus Сказка странствий aka Märchen einer Wanderung aka Eine phantastische Geschichte (SU/CS/RO 1983, Aleksandr Mitta). Orlando (Andrey Mironov) wird gerade von Unholden im Hungerturm eingemauert – 80er Jahre-Kinderfilme, ey! – und hat noch diese wertvolle Lebensweisheit für Marta (Tatyana Aksyuta) parat, der er bei der Suche nach ihrem vom Weihnachstmann (!) entführten Bruder hilft. Mir hat’s jedenfalls innere Kraft gegeben, beim Blick in die Nachrichten mit Queerdenkern und stolzen Jungs und all den anderen Hohlköpfen – oder auch nur bei der Nutzung des öffentlichen Berliner Nahverkehrs. Da neben Weihnachten auch die Pest in dem Film vorkommt, ist Märchen einer Wanderung auch ein prima Seuchenfilm für die kinofreien Festtage, anschaubar auf dem YouTube-Kanal von der Mosfilm. Ist jetzt ja quasi Bürgerpflicht, sich über Tröpfcheninfektion und dergleichen schlau zu machen. Frohes Fest euch allen!

Alexander Buchholz

Hängengeblieben 2020 Buchholz Meme

Zoom

„Hallo, könnt ihr mich hören? Ja, hallo, ja, ich höre dich, hörst du mich? Machst du mal dein Fenster zu? Und deine Tochter schläft jetzt wirklich? Ja, bitte, du musst deine Stummschaltung ausmachen! Sonst hör ich dich nicht. Ja, kannst du mich bitte wieder zurück hosten, damit ich meinen Bildschirm teilen kann? Wie du bist im Browser? Hast du die App nicht installiert? Das geht sonst nicht. Hallo? Ah, warte mal, mein Bluetooth. Bist du noch da? Ob du mich zum Host machen kannst, habe ich gefragt. Wie? Die 40 Minuten sind schon wieder um? Dann loggen wir uns alle hier wieder ein? Wenn wir schon dabei sind, lass uns doch gleich fünf Minuten Pause machen, dann mache ich mir noch einen Kaffee. Jetzt ist drei, sagen wir halb vier?!“

Ji-Hun Kim

Reduziert, programmiert, exaltiertLucy Railton, Dominique A, Ascendant Vierge – 3 Platten, 3 Meinungen

„Manchmal denke ich: Lass das Politische doch einfach weg“Interview: Alex Stolze über sein neues Album „Kinship Stories“